Konstruktion: Disjunktion_Doppeltitel:X_oder_Y

{
KE:Disjunkt_1Christoph Kolumbus
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Die Entdeckung Amerikas
}
.

Diese Konstruktion ist Teil der Konstruktionsfamilie Koordination

Die Konstruktion wird in der Literatur bzw. in Grammatiken auch thematisiert unter:

Konstruktionstyp:

Syntaktische Konstruktion

Struktur/Form der Konstruktion:

EN_oder_NP

NP_oder_NP

NP_oder_w-VL-Satz

Bei Disjunktion_Doppeltitel:X_oder_Y handelt es sich um eine Konstruktion, welche in ihrer spezifischen Funktionalität ausschließlich als Titel erscheint und damit als kommunikative Ressource der geschriebenen Sprache fungiert. Als Titel bzw. Überschrift stellen Instanzen des Musters Leseanleitungen dar, deren Besonderheit darin besteht, dass sie in Form der Disjunktion zwei Möglichkeiten präsentieren, unter denen der nachfolgende Text zu lesen ist (vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 268). Diese metalinguistische Interpretation ergibt sich daraus, dass die Koordinationsphrase, in der der Konnektor oderKE-lex:oder mit KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 und KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 zwei voneinander unabhängige Phrasen verknüpft, nicht propositional im Sinne einer Alternativfrage interpretiert wird, als sei eine Wahl zwischen zwei Sachverhalten bzw. Entitäten zu treffen (im Sinne von: In diesem Text geht es entweder um Christoph Columbus oder um Die Entdeckung Amerikas), sondern vielmehr so, dass die Disjunkte zwei Formulierungsalternativen für ein- und denselben Sachverhalt bereitstellen, die als äquivalent gelten und gleichermaßen zutreffen (im Sinne von: In diesem Text geht es um Christoph Columbus oder anders gesagt um Die Entdeckung Amerikas) (vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 260).

Neben der spezifischen Kontext-Restriktion, als Titelformat ausschließlich an die sequenzielle Position der Überschrift gebunden zu sein, ist die Kxn in dreifacher Hinsicht restringiert (vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 259-262):

1) Zum einen liegt eine Nicht-Gleichartigkeitsbeschränkung der Disjunkte vor, insofern diese in der Regel durch unterschiedliche syntaktische Phrasenstrukturen (z.B. EN und NP oder NP und w-VL-Satz) oder bei einer identischen Phrasenstruktur (z.B. NP und NP) durch unterschiedliche Mikrostrukturen realisiert werden (z.B. eine NP mit präpositionalem Attribut und eine NP mit Genitivattribut).

{
KE:Disjunkt_1Stefan Zweig
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2die Suche nach dem Fremden
}
Stadtflucht:
{
KE:Disjunkt_1Das Häuschen im Grünen
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2der Untergang der Städte
}
2) Zweitens gibt es eine klare Restriktion hinsichtlich der Reihenfolge der Disjunkte: So fungiert innerhalb der Kxn das beim linearen Lesen später aufgenommene zweite Disjunkt als explizierender Zusatz zum ersten Disjunkt. Der Y-Slot zeichnet sich somit durch ein semantisches Explikationspotenzial zum X-Slot aus, was tendenziell mit einer syntaktisch größeren Komplexität von KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 einhergeht (z.B. EN vor NP oder NP vor w-VL-Satz).

{
KE:Disjunkt_1Polanski
- oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2die Rache der Wirklichkeit
}
{
KE:Disjunkt_1Die Wette auf das Unbewußte
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Was Sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten
}
3) Da sich die Disjunkte normalerweise auf denselben generellen Aspekt des Bezugstextes (meistens das Thema) beziehen, unterliegen sie drittens einer Äquivalenzbeschränkung. Kombinationen von Disjunkten, die auf unterschiedliche Eigenschaften des Textes bezogen sind (z.B. thematische Charakterisierung und Textsortencharakterisierung) werden von der Kxn nicht lizensiert (vgl. Der Fall Ecstasy oder Eine Essaysammlung).

{
KE:Disjunkt_1Der Fall Ecstasy
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2warum Drogen blind machen
}
{
KE:Disjunkt_1Survival
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Leben in den Wäldern
}

Weiterführende Informationen

1) Graphematik

Bei der Konstitution des funktionalen Potenzials von X_oder_Y als Titel bzw. Überschrift spielen auch graphematische Aspekte eine Rolle, die die genannten syntaktischen und semantischen Eigenschaften der Kxn verstärken (vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 258). So ergibt sich die Unabhängigkeit der Disjunkte nicht nur aus der Syntax und Semantik des Konnektors oderKE-lex:oder, sondern wird zudem häufig durch bestimmte graphematische Mittel angezeigt. Dazu gehört einerseits die häufige Großschreibung des ersten Wortes von KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 sowie die Setzung von Interpunktionszeichen wie Gedankenstrichen, Kommata oder Auslassungspunkten zwischen KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 und Konnektor oder Doppelpunkten zwischen Konnektor und KE:Disjunkt_2Disjunkt_2, wobei auch doppelte Markierungen vor und nach dem Konnektor möglich sind. Dabei können die Interpunktionszeichen zugleich als Kontextualisierung einer – gesprochensprachlichen – Realisierung einer kurzen Zäsur zwischen den Disjunkten und Konnektor gesehen werden, was die Unabhängigkeit der Disjunkte auch auf prosodischer Ebene markiert (vgl Finkbeiner/Tienken 2018: 258f.).

{
KE:Disjunkt_1Weinen wie die Holländer
, oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Wenn Angela die Beatrix macht Von Peter Dausend
}
{
KE:Disjunkt_1Kabarettist sein
- oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Das Publikum zum Lachen über Trauriges verführen
}

2) Genrebindung

Als Resultat eines Konventionalisierungsprozesses verfügt X_oder_Y über ein doppeltes Kontextualisierungspotenzial. So liegen einerseits deutliche Präferenzen hinsichtlich bestimmter Genres vor, während durch die Kxn andererseits auch spezifische Genres indiziert werden können (vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 268). Zu den drei präferierten Verwendungskontexten gehören:

1) Filmtitel, Buchtitel (Ratgeberliteratur, populärwissenschaftlicher Literatur und Belletristik) und Titel von Theaterstücken

Alain Resnais' Farbfilm "
{
KE:Disjunkt_1Muriel
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2die Zeit der Wiederkehr
}
"
Zur Uraufführung von Otto F. Walters Stück "
{
KE:Disjunkt_1Elio
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Eine fröhliche Gesellschaft
}
" in Zürich
2) Presseüberschriften sog. „weicher Nachrichten“ bzw. meinungsbetonter Pressetextsorten wie Kommentaren, Glossen und Reportagen

{
KE:Disjunkt_1Aufstand der Schaufensterpuppen
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2ein Versuch , das Weihnachtsgeschäft zu retten
}
{
KE:Disjunkt_1Justus Frantz
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2die Möglichkeit , heute noch Konzertpianist ZU werden
}
/ Von Heinz Josef Herbort ;t
3) Überschriften von Blogs und Webforen-Threads

{
KE:Disjunkt_1Belegitis
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Darf Wikipedia auf Belege verzichten ?
}
{
KE:Disjunkt_1Sprachliche Neuschöpfungen
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Platt für Astronauten
}
(vgl. Finkbeiner/Tienken 2018: 252-255).


Morphosyntaktische Komplexität & Kategorie

variabel
Schematizität Idiomatizität Beschränkungen
0.33 teilidiomatisch ja (formseitig + semantisch/pragmatisch)
Texttyp/Genre

Überschrift/Titel

Drei präferierte Verwendungskontexte: 1) Filmtitel, Buchtitel (innerhalb von Ratgeberliteratur, populärwissenschaftlicher Literatur und Belletristik) und Titel von Theaterstücken, 2) Presseüberschriften „weicher Nachrichten“ bzw. meinungsbetonter Pressetextsorten wie Kommentaren, Glossen und Reportagen und 3) Überschriften von Blogs und Webforen-Threads

Konstruktionselemente (KE) Kern Konstruktionselemente mit lexikalisch festen Instanzen (KE-lex)

oder

Das KE-lex bildet die koordinierende Konjunktion oderKE-lex:oder, die mit KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 und KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 zwei syntaktisch unabhängige und gleichrangige Phrasen miteinander verknüpft. In der sequenziellen Abfolge der konstruktionslizensierenden Elemente nimmt das KE-lexKE-lex:oder zwischen den KE KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 und KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 somit stets die mittlere Position ein. Aus semantischer Sicht wird der Konnektor im Rahmen einer nicht ausschließenden (exklusiven) Lesart innerhalb des Titelformats nicht propositional und damit als Alternative zwischen zwei Entitäten bzw. Sachverhalten interpretiert, sondern metalinguistisch in der Form, dass er zwei sprachliche Einheiten miteinander verknüpft, die zwei Formulierungsalternativen für ein- und denselben Sachverhalt bereitstellen, die gleichermaßen zutreffen (in der Bedeutung von: 'oder anders gesagt'). Dabei wird das KE-lex oderKE-lex:oder häufig von Interpunktionszeichen begleitet, die auch auf graphematischer (und ferner prosodischer) Ebene die syntaktische Unabhängigkeit der Disjunkte markieren. Während Gedankenstrich, Komma und Auslassungspunkte i.d.R. vor dem Konnektor auftreten (und den Konnektor von KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 trennen), tritt der ebenfalls häufig verwendete Doppelpunkt nach dem Konnektor auf (und trennt diesen von KE:Disjunkt_2Disjunkt_2).

Beispiel:

{
KE:Disjunkt_1Belegitis
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Darf Wikipedia auf Belege verzichten ?
}

Konstruktionselemente (KE) Kern Weitere Konstruktionselemente (KE)

Disjunkt_1

Das KE KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 verweist auf die erste der beiden Formulierungsalternativen, die innerhalb des Doppeltitels durch den Konnektor oderKE-lex:oder miteinander verknüpft werden. In der sequenziellen Abfolge der KE nimmt es stets die erste Position ein, d.h. es geht dem KE-lex oderKE-lex:oder sowie dem daran angeschlossenen KE KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 syntagmatisch immer voraus.

Semantisch handelt es sich bei KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 i.d.R. um das informationsärmere der beiden Disjunkte, das kategorial durch unterschiedliche Wortarten bzw. Phrasentypen ausgedrückt werden kann, wobei Eigennamen und einfache NP die häufigsten Besetzungen darstellen.

Beispiel:

{
KE:Disjunkt_1Thomas Mann
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Literatur als Leistung
}
Edzard Schaper: "
{
KE:Disjunkt_1Das Tier
oderKE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Die Geschichte eines Bären der Oskar hieß
}
"

Typische Realisierungen:

EN, einfache NP

Disjunkt_2

Das KE KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 verweist auf die zweite der beiden Formulierungsalternativen, die innerhalb des Doppeltitels durch den Konnektor oderKE-lex:oder miteinander verknüpft werden. In der sequenziellen Abfolge der KE steht es somit stets an letzter Position, d.h. es ist dem KE KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 und dem KE-lex oderKE-lex:oder syntagmatisch immer nachgeordnet.

Auf semantischer Ebene zeichnet sich KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 durch ein Explikationspotenzial zu KE:Disjunkt_1Disjunkt_1 aus: Da ein Ausdruck umso explikativer ist, je spezifischer sein Informationsgehalt ist und der Informationsgehalt tendenziell höher ist, je komplexer der Ausdruck ist, da hier Möglichkeiten wie Attribuierung etc. gegeben sind, die zusätzliche Informationen kodieren, stellt KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 somit i.d.R. semantisch das informationsreichere und syntaktisch das komplexere der beiden Disjunkte dar.

Nicht selten geht KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 ein Doppelpunkt voraus, der mit dem semantischen Effekt verbunden ist, das zweite Disjunkt als explizierenden Nachtrag zu kennzeichnen und somit die semantische Leistung des KE auf graphematischer Ebene zu verstärken. Überdies besteht die Besonderheit, dass das erste Wort von KE:Disjunkt_2Disjunkt_2 häufig großgeschrieben erscheint. Kategorial kann das KE durch unterschiedliche Phrasentypen realisiert werden, wobei komplexe(re) NP und w-VL-Sätze die häufigsten Besetzungen darstellen.

Beispiel:

{
KE:Disjunkt_1Blumental
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Der Stoff , aus dem Energieträume sind
}
{Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen ( 4 ) :
KE:Disjunkt_1Das " System Kohl "
oder :KE-lex:oder
KE:Disjunkt_2Wie Machtstrukturen in den Parteien wirklich entstehen
}

Typische Realisierungen:

komplexe(re) NP, w-VL-Sätze

Kern-KE-Sets
Disjunkt_1Disjunkt_2

Konstruktionselemente (KE) Nicht-Kern

Konstruktionselemente (KE) Korrelierende Elemente (KorE) exemplarisch

Finkbeiner, Rita / Tienken, Susanne (Year): „Braindance oder Warum Schimpansen nicht steppen können.“ X oder Y als Titelformat und kommunikative Ressource in geschriebener Sprache, in: Filatkina, Natalia / Stumpf, Sören (Hrsg.): Konventionalisierung und Variation. Phraseologische und konstruktionsgrammatische Perspektiven, Berlin/Bern: Peter Lang, 251–271.
Rothe, Arnold (1969): Der Doppeltitel. Zu Form und Geschichte einer literarischen Konvention, Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur 10 Mainz: Verl. der Akad. der Wiss. und der Literatur.